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Resümee und Ausblick
In Auswertung der bisherigen Ergebnisse stellt sich abschließend die Frage, inwieweit Literatur Werte und Normen zu vermitteln in der Lage ist bzw. wie eine konkrete Vermittlung von Werten gestaltet werden könnte. Innerhalb des Literaturprojektes der Teilnehmergruppe aus Magdeburg wurden in allen drei gewählten Büchern spezifische Werte und Normen aufgefunden, die darüber hinaus im weitesten Sinne ihre Aktualität im europäischen Kontext behauten können. So wurden die Werte Unternehmergeist, Zielstrebigkeit, Leistungswille, Elan und Mut zum Risiko als spezifische Werte innerhalb Thomas Manns Roman „Buddenbrooks“ ausfindig gemacht und zur aktuellen wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Lage in Bezug gesetzt. Dementsprechend klagt das Buch eine übergreifende unternehmerische Habgier an, die aktuell innerhalb der Geschäftspraktiken von Konzernen und Banken beobachtet werden kann. Einer solchen Grundhaltung entgegen stellen sich i.w.S. überzeitlich Geltung beanspruchende Werte wie die Bedeutung der Familie, die gesellschaftliche Rolle der Frau und die Reflexion über ein gerechtes und die menschlichen Bedürfnisse berücksichtigendes Schulsystem. Insofern artikuliert dieser Roman zutiefst bürgerliche Werte und reflektiert diese auf hohem Niveau, womit es vor allem auch ein Zeichen gegen den so oft apostrophierten Werteverfall der Gesellschaft setzt.
Im Gegensatz zu Manns Roman thematisiert Grass’ „Blechtrommel“ das Werteverfallsproblem innerhalb einer gesellschaftspolitischen Dimension, wenn die Befindlichkeit der deutschen Bevölkerung während der NS-Zeit in Danzig einer Analyse durch den Protagonisten Oskar Matzerath unterzogen wird. Hierbei stehen insbesondere interkulturelle Werte wie Toleranz und gegenseitige Achtung als Basis für ein funktionierendes gesellschaftliches System im Vordergrund. Aktualität gewinnt dieser Roman vor allem vor der gesamteuropäischen Frage des Umgangs mit der Globalisierung und dem damit einhergehenden Migrationsproblem, das in den letzten Jahren vermehrt im gesamteuropäischen Raum diskutiert wird. Der Roman zeigt somit die Konsequenzen auf, denen eine Gesellschaft anheim fällt, die Ehrlichkeit und Wachsamkeit sich selbst gegenüber verloren hat und kulturelle Minderheitsgruppierungen mit Missachtung und sozialen Sanktionen belegt.
Bei Heins Novelle „Der fremde Freund“ („Drachenblut“) hingegen steht das individuelle Befinden von Menschen in der Moderne im Vordergrund, wobei vor allem das menschliche Miteinander im mikrosozialen Bereich fokussiert wird. Die negativen Züge und Verhaltensweisen der Protagonistin lassen den Leser die Bedeutung der Familie – insbesondere einer intakten Familienstruktur – , das generationsübergreifende Problem der Eltern-Kind-Beziehung sowie den Stellenwert der Freundschaft als Basis eines individuellen gelingenden Lebens erfahren. Heins Novelle klagt auf diese Weise das moderne Lebensgefühl an, das lediglich durch wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Erfolg gekennzeichnet ist und empathische Empfindungen für den gesellschaftlichen Bereich vermissen lässt.
Trotz der intensiven Diskussion über die Darstellung von Werten in der Literatur und deren Vermittlung zwischen den Generationen wird die Frage, was eigentlich unter den Begriffen „Wert“ und „Norm“ verstanden werden soll häufig kaum ausreichend thematisiert. Insofern scheint es nötig zu sein, diese Frage nochmals zu stellen. Dem Vortrag Herrn Dr. Freymarks bei dem Tripple-Meeting in Wien folgend, sollen unter dem Begriff „Wert“ vor allem Vorstellungen und Leitbilder einer Kultur verstanden werden, die wünschenswert sind hinsichtlich religiöser, kultureller, ethischer und sozialer Grundorientierungen. Hierbei muss berücksichtigt werden, dass es sich keinesfalls um ein für allemal feststehende Inhalte handelt, sondern dass diese Orientierungen innerhalb des gesellschaftlichen Umganges historisch gewachsen sind, sich also im Lauf der Zeit transformiert haben und somit gesellschaftlichen Schwankungen unterliegen. Als Regulatoren menschlichen Verhaltens kommt ihnen die Aufgabe zu, innerhalb eines gesellschaftlichen Systems für eine gewisse Stabilität zu sorgen. Konflikte innerhalb einer Gesellschaft, seien diese nun religiöser, wirtschaftlicher oder auch politischer Natur, dienen hierbei im besten Falle immer für eine Reflexion über die zu einem bestimmten Zeitpunkt in einer Gesellschaft geltenden Werte. Im Gegensatz zum Begriff des „Wertes“ ist derjenige der „Norm“ dadurch gekennzeichnet, dass er explizite Verhaltensregeln für den Umgang von Menschen miteinander unter sich subsumiert. Insofern handelt es sich bei „Normen“ um allgemein sozial gültige Regeln des Handelns. Mit anderen Worten: während Werte lediglich auf eine theoretische Betrachtung von Gegenständen im gemeinsamen Miteinander fokussieren, geben Normen klare Handlungsanweisungen und sind daher praxisorientiert. Eine Transformation gesellschaftlich akzeptierter Normen folgt daher grundsätzlich einer solchen von bestimmten Werten innerhalb eines gesellschaftlichen Systems.
Die Ergebnisse des Projektes resümierend, stellt sich die Frage, inwiefern ein generationsübergreifender kommunikativer Austausch über Werte und Normen erfolgen und eine Wertevermittlung gewährleistet werden kann. Einigkeit konnte erzielt werden über die Bedeutung der Kommunikation zwischen der älteren und der jüngeren Generation. Im gemeinsamen Miteinander und Erleben, sowie in gemeinsamen Aktivitäten bietet sich der älteren Generation die Chance, nicht nur Werte durch Vorleben zu vermitteln, sondern gleichfalls ein Verständnis für die Bedürfnisse und Probleme der jüngeren Generation zu entwickeln und das eigene Wertesystem selbst zu modifizieren. Jenseits einer reinen Wertevermittlung durch gesellschaftliche Institutionen wie Schule und Beruf bietet nach Meinung aller Teilnehmer vor allem die Beschäftigung mit literarischen Werken die Möglichkeit, seinen eigenen Wertekanon weiterzuentwickeln und zu hinterfragen. Literatur bietet in dieser Beziehung gerade deswegen eine außergewöhnliche Basis, weil die in ihr artikulierten Probleme als zentrale Fragestellungen des menschlichen Lebens gelesen werden können. Die Freude am Lesen und am Diskutieren von Texten bietet die Möglichkeit, alt und jung zusammenzuführen und einen Diskurs zu etablieren über spezifische Werte und Normen, von welchem beide Generationen profitieren können. Unter Berücksichtigung dessen, was gemeinsame kulturelle Betätigungen im Umgang miteinander zu leisten in der Lage sind, wird in dieser Hinsicht auch ein vollkommen anderes Licht auf den Bildungsgedanken geworfen. „Bildung“ bedeutet in dieser Hinsicht nicht das Delegieren von Bildungsaufgaben an jeweilige Fachkräfte wie Lehrer und Erzieher, sondern erscheint als gemeinsamer Auftrag im gesellschaftlichen Bereich. Daran mitzuwirken sind nicht nur diejenigen aufgerufen, die eine eigene Familie haben, sondern alle am gesellschaftlichen System Partizipierenden. Erst auf diese Art und Weise wird gesellschaftliche Zukunft aktiv mitgestaltet.